Tina Schwichtenberg
INTERVENTIONEN - Objekte und Installationen
Ausstellung vom 14.5. bis 25.6. 2017
Tina Schwichtenberg ist Konzeptkünstlerin mit gesellschaftspolitischem Anliegen. Sie mischt sich ein. Sie bezieht Stellung zu den relevanten, virulenten Problemen unserer Zeit, macht sie mit den unterschiedlichsten künstlerischen Gestaltungsmitteln sichtbar. Ihre Werke werfen Fragen auf, geben Impulse, stimmen nachdenklich, liefern aber keine fertigen Antworten oder Lösungen. Die Künstlerin sagt über sich selber: „Mir liegt nicht nur an der ästhetischen Aussage meiner Kunst. Ich lebe sehr bewusst, sehr intensiv in meiner Zeit, und so fallen mir Dinge auf, die mir aufs Gemüt schlagen, die mich lachen oder wütend machen, die mich tief berühren oder lange Zeit beschäftigen. Daraus entstehen Ideen für Objekte, die ich mit Hilfe verschiedener Materialien und Techniken umsetze.“
Der in Pampin – in der Kulturhalle sowie im Skulpturenpark – ausgestellte repräsentative Querschnitt des großen, eindrucksvollen Werks von Tina Schwichtenberg lässt sich auf einen Nenner bringen: KUNST, DIE UNS ANGEHT.
Bei ihren Stellungnahmen zum Zeitgeschehen verzichtet Tina Schwichtenberg auf den moralischen Zeigefinger. So ernst die Dinge sein mögen, die sie betroffen machen – sie begegnet ihnen nicht mit verbissenem Ernst, versetzt den Betrachter nicht in depressive Stimmungen. Vielmehr aktiviert sie unsere Sinne mit konstruktiver Ironie und tiefgründigem Humor.
Sie bedient sich der realistischen Formensprache, ohne die Realität eins zu eins abzubilden. Vielmehr spricht sie in Metaphern, die oft rätselhaft, verschlüsselt sind, sich nicht von selbst erklären, nicht sofort decodieren lassen. Dabei ist ein wiederkehrendes Stilmerkmal das Serielle, die Wiederholung/Aneinanderreihung bestimmter Motive.
Unter den Exponaten befindet sich u. a. die berühmte Skulpturengruppe FRAUEN DE FORMATION, die bereits in aller Welt für Aufmerksamkeit und Bewunderung gesorgt hat, seit 2008 ständig auf der NORDART – Deutschlands größter jährlicher internationaler Kunstschau – und nun in Pampin zu sehen ist.
12 Frauenfiguren, in ihrer gedrungenen kompakten Gestalt (1m hoch) und steifen Haltung einander ähnlich, stehen in Reih und Glied. Formieren sie sich? Proben sie den Aufstand, um ihre Rechte zu erlangen, zu verteidigen? Demonstrieren sie Frauen-Power? Oder repräsentieren sie die Entwicklung der Menschheit mit all ihren verschiedenen Ausformungen, Individualitäten, (Schönheits)Idealen, Krankheiten, Deformationen, Schicksalen? Sind sie ein (Zerr)Spiegelbild der Gesellschaft, in dem wir uns wiedererkennen? FRAUEN DE FORMATION hat keinen unmittelbaren aktuellen Zeitbezug, sondern ist von zeitloser Aktualität.
Komplexe Sachverhalte reduziert die Künstlerin auf das Wesentliche und veranschaulicht das mit einfach anmutenden, gleichwohl raffinierten Metaphern.
Ein Beispiel dafür ist die Installation „Abgewickelt“. Zahllose unter der Decke hängende Garnspindeln, die aus dem Nachlass einer nach der Wiedervereinigung „abgewickelten“ ostdeutschen Textilfabrik stammen, entspulen sich und lassen ihre Fäden runterfallen. Eine Metapher für die vielen fallen gelassenen, in die Arbeitslosigkeit entlassenen Schicksale ehemaliger DDR-Bürger.
In einer anderen – zeitlos aktuellen – Installation, dem „Schachspiel“, illustriert Tina Schwichtenberg den umgekehrten Weg: von einfachen zu komplexen Strukturen – auch dies mit dem Scharfsinn für das Wesentliche und der Reduktion auf eine genial einfache Bildsprache. Alle Figuren haben dieselbe olivgrüne Tarnfarbe. Der Gegner ist also nicht zu erkennen. Unser Freund-Feind-Denken wird in Frage gestellt. Ohne die Einteilung der Welt in Schwarz-Weiß, in Wir und die Anderen werden unsere tief eingekerbten Konstruktionen von Wirklichkeit und Orientierungen aufgelöst. Das verwirrt, macht ratlos, fordert aber auch zum Umdenken heraus, weg vom einfachen bipolaren hin zum differenzierten Wahrnehmen und Denken.
Ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit aktuellem Zeitgeschehen ist die Installation „Lampedusa“. Weiße Schiffchen auf schwankendem Rohr wirken zunächst, bei flüchtigem Betrachten oder aus der Ferne, wie eine fröhliche Regatta. Doch das Gedränge, die Enge und das Schwanken sind beklemmend, lassen die Gefahren erahnen. Der Titel „Lampedusa“ bestätigt diese Ahnung, verdeutlicht die Ambivalenz und Nähe von Hoffnung und Leid, von Leben und Tod, die diese Schiffe mit und in sich tragen. Automatisch assoziiert man mit der weißen „Flotte“ das Schicksal Tausender Flüchtlinge, die dicht gedrängt in unsicheren Booten voller Hoffnung gestartet sind, ihr Leben für eine bessere Zukunft aufs Spiel setzten und oft verloren.
Eröffnungsrede am 14. Mai 2017 von Jürgen Rennert
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,
Thomas de Maiziere hat es uns und dem Verfasser des „West‐östlichen Diwans“ nun schriftlich gegeben: „Wir sind nicht Burka!“ Leider hat er in seiner Verlautbarung zur „deutschen Leitkultur“ vergessen, einen ihrer Kernsätze hervorzuheben. Der findet sich in einer am 17. Oktober 1806 ergangenen Aufforderung des Grafen von Schulenburg an die Berliner Bevölkerung. Sie lautet: „Der König hat eine Bataille verloren. Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht. Ich fordere die Einwohner Berlins dazu auf. Der König und seine Brüder leben!“
Tina Schwichtenberg, 1944 in Kiel geboren, ist taub für derlei Imperative. Durch eigene Nachkriegserfahrungen hinreichend gebrannt und belehrt, hält sie es mit der heilsamen Unruhe. Dass der König und seine Brüder leben, gönnt sie ihnen. Aber dass deren Untertanen auch nach der verlorenen Schlacht bei Jena und Auerstädt immer noch allein darum ihr Leben lassen müssen, empört sie. Und verhilft ihr zu dem Einfall, das „Spiel der Könige“ unspielbar zu machen, indem sie seine Figuren ins Tintenfass taucht und allesamt olivgrün herauszieht. Denn ohne Schwarzweiß‐Malerei kommt kein Krieg über die ersten Züge hinaus. Tina agiert wie Niklas in der „Geschichte von den schwarzen Buben“ aus dem „Struwwelpeter“. Auch der hat sich – wie die an Grausamkeiten reiche Märchensammlung der Brüder Grimm – als ein Kompendium deutscher Leitkultur erwiesen.
Am letzten Montag jährte sich der Tag der Befreiung zum 72. Male. Am fünfzigsten Jahrestag wurde mit etlichen Veranstaltungen in Berlin und andernorts demonstrativ an den 8.Mai 1945 erinnert. Mit dem Gedenken sollte zugleich ein Zeichen gegen das Erstarken des Rechtsradikalismus im vereinten Deutschland gesetzt werden. Tina Schwichtenberg schlug für diesen Anlass vor, mit dem Aushängen weißer Laken an zentralen Gebäuden Berlins an den Vorgang der Kapitulation zu erinnern. Zugleich sollten Berliner Bürgerinnen und Bürger ermutigt werden, sich an dieser Aktion zu beteiligen. Ihr Vorschlag traf auf Ablehnung bei allen angefragten Seiten. Doch Tina und Rolf, ihr unentbehrlicher Koproduzent und Mitarbeiter, gaben keine Ruhe. Ein Jahr später, am 8. Mai 1996, dem 51. Jahrestag, wurden unter Mithilfe der Bewohner des ehemaligen Gewerkschaftshauses in der Berliner Wallstraße weiße Laken aus den Fenstern gehängt und riefen die couragierten Einzelaktionen jener Berlinerinnen und Berliner ins Gedächtnis, die sich trotz angedrohter Todesstrafe den Befehlen des NS‐Regimes widersetzt hatten. Ein eindrückliches Bild von jener Aktion findet sich im Schwarzen Kabinett dieser Ausstellungshalle. Ebendort liest sich auch die 1903 gestiftete Tafelinschrift der Dichterin Emma Lazarus am Unterbau der in Frankreich vorgefertigten amerikanischen Freiheitsstatue: „Gebt mir eure Müden, eure Armen, Eure geknechteten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen“. Diese Bodeninstallation ist Teil von Tinas Mehl‐Art. Aus dem absichtsvollen Sich‐Verhören in Sachen „Mail“ und „Flour“ ist sie entstanden: als Kunst fein siebender Reduktion, die das Gemeinte scharf umrandet und für mehr oder minder kurze Zeit ebenso sicht‐ wie begreifbar macht. Eine temporäre Arbeit, immer wieder in Außen- und Innenräumen realisiert ‐ mit Texten, die sich präzise auf den jeweiligen Ort, auf gesellschaftliche, politische oder historische Ereignisse beziehen, dem raschen Verwehen und Darüber‐hinweg‐Gehen preisgegeben. Ein einprägsames Beispiel für unsere Erinnerungs‐ und Vergesslichkeitskultur.
Tinas Einmischungen und Einsprüche, lassen sich in der Regel nicht ohne Verlust ins Gehäuse konventioneller Ausstellungsräume zwängen. Sie schielen nicht nach der Ewigkeit. Der Raum, in dem sie eingreifend wirken, ist ein alltäglicher, ein öffentlicher und für alle zugänglicher. Das Publikum, auf das Tinas Arbeiten abzielen, besteht aus berühr- und ansprechbaren Menschen, eingewoben ins Nützliche und Alltägliche ihres Lebens. Wie die bodenständigen „Landeskinder“, die sich rechterhand im letzten Raum in der Fotoserie eines Dokumentarfilmers Jahr um Jahr geduldig ablichten ließen und Ja und Amen dazu sagten, als ihnen Mutter, Schwieger‐ und Großmutter Tina luxuriöse Ray‐Ban‐Brillen auf die Nasen tuschte und ihnen damit einen Hauch von Exklusivität verlieh. Das Ganze in Schwarz‐Weiß und als heitere Hommage an die Punk‐Lady Nina Hagen und ihren frühen, mittlerweile weltbekannten DDR‐Hit „Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael“.
Heiterkeit ist dem Göttlichen verschwistert. Ebenso wie die Einfühlungsfähigkeit in fremdes Leid und fremde Trauer. Angesichts der Unwiederholbarkeit des menschlichen Lebens tröstet partiell die Erinnerung. Wenn die Erinnernden fehlen oder das menschliche Erinnern versagt, braucht es das Gedächtnis der Tücher. Tinas „Repetition“ entstand als lautloses Requiem für die Opfer der jüngsten Kriege auf dieser Welt. Stätten der Präsentation fanden sich in Tokyo, Buenos Aires, Graz, Prigglitz, Kleinsassen und an verschiedenen Orten Berlins. Aber auch weiße Leichentücher sterben. Ihr bräunliches Verkommen und Vergehen ist hierorts auf dem Parkgelände zu besichtigen. Wie auch jene – „Spuren der Berührung“ überschriebene – Installation, in der mit Leinenstreifen bandagierte Bäume all ihre übersehenen und verschwiegenen Verletzungen vor Augen führen. In einer Reihung, die den Weg ins Areal des unentwegt ersehnten Friedens flankiert. Wolfgang Vogt und seiner Frau Ortrun ist zu danken: für ihre innere Aufgeschlossenheit und die Öffnung des gesamten Geländes. Sie haben ‐ wie kaum jemand zuvor ‐ begriffen, dass sich Tinas Arbeiten unmöglich in hermetischer Abgeschlossenheit präsentieren lassen. So entstanden auf Wolfgangs Bitte und Anregung hin im angrenzenden Park die „Pampiner Objekte“. Von den sich tolerant öffnenden und in Abwehr verschließenden Pollerkreisen bis hin zum „Aufstand der Karren“.
Ich lernte Tina in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch meine Arbeit bei dem im Berliner Dom beheimateten „Kunstdienst der Evangelischen Kirche“ kennen. Und war vielfach Zeuge ihrer verblüffenden, überraschenden und aufstörenden Inszenierungen. An den zentralen Plätzen der 1989 von ihr zum ersten Wirkungsort erwählten deutschen Metropole hat sie viele ihre Einsprüche realisiert. Einsprüche gegen das allzu rasche Vergessen und Verdrängen, gegen die ebenso frei‐ wie unfreiwillige Selbstverleugnung der neu hinzugekommenen Bürgerinnen und Bürger des eben abgelebten ostdeutschen Staates. Wie keine andere mir bekannte Künstlerin nahm sich Tina mit ihrem Schaffen der vereinigungsbedingten seelischen Verstörungen und Befindlichkeiten der neuen Mitbürgerinnen und Mitbürger an. Denn die hatten sich gleich doppelt neu zu definieren: als ehemalige Einwohner eines ehemaligen Landes. Die meisten von ihnen mussten sich wohl oder übel an Vorgänge und Begriffe gewöhnen, von denen z.B. das Wort „Abwicklung“ gespenstische Dimensionen zeitigte. 2005 kappten die Hannoveraner Parzen der Evangelischen Kirche in Deutschland auch die Fäden, an denen meine Institution seit 1928 gehangen hatte.
Wer seine Kunst betreibt wie Tina, betreibt die Sache des Menschen. Intensives Zuhören, genaues Hinsehen und Erinnern gehen allen Arbeiten von Tina voraus, die sich nicht mit dem schönen Schein begnügen, sondern schön aufscheinen lassen, was es mit uns und den von uns produzierten Gegebenheiten und Verhältnissen im Guten wie im Bösen auf sich hat. Die Mittel, derer sie sich ‐ abgesehen von ihren originären figuralen Geschöpfen ‐ vornehmlich bedient, sind Fundstücke, Hinterlassenschaften, Spielfiguren, Kunstblumen, Abdrücke, Alltagsgegenstände, Transportkisten, Artikel vom Flohmarkt, zerschredderte Filme und Abhörbänder aus Geheimdienstverliesen et cetera pp.
Wer Augen hat, zu sehen, übersieht in der Regel vieles, was sich dem Blinden mühelos übers Gehör und den Tastsinn erschließt. Begreifen kommt von Greifen. Tinas Entscheidung, sich auch der Braille‐Schrift zu bedienen, trug in Paul Gerhardts letzter Predigtstätte in Lübben erstaunliche Früchte, als sie eine Strophe aus seinen Liedern im Sockelbereich der Kirche ertastbar umlaufen ließ und einer Gruppe sehbehinderter Touristen das Vergnügen der Lektüre bescherte. Hierorts punktieren nun Teekannendeckel auf den Fußbodenkanten eine Einladung von Friedrich II., die in ihrer mitmenschlichen Weitsicht die Weltsicht der zeitgenössischen Wutbürger vehement konterkariert. Und das mit „Speisung“ betitelte Objekt, dessen griffbereite Löffel einladen, sich an den Münzen auf dem Boden der goldenen Teller gütlich zu tun, beschwört die Sage vom König Midas, der sich gleich uns wünschte, dass ihm alles, was er berührte zu Geld und Gold gerinnen müsste und dabei übersah, dass es ihm im Halse stecken bleiben würde.
Im Zeitalter der durch GPS‐Satelliten gesteuerten Navigationsgeräte braucht es wenig, um im Blick auf die Beschriftung des Objekts fragil aufgepflanzter weißer Schiffchen den Ort zu bestimmen, der unter den Koordinaten „35 Grad 30 Strich 35 nördlicher Breite und 12 Grad 36 Strich Null östlicher Länge“ zu finden ist: Lampedusa, die durch ihre Auffanglager berüchtigte „Flüchtlingsinsel“. Und wer sich durch den euphorischen Imperativ der Kanzlerin „Wir schaffen das!“ aller Sorgen um das Problem der massenhaft und hoffnungsvoll zu uns flüchtenden, an Leib und Seele bedrohten Mitmenschen enthoben glaubte, ist ‐ nach allen bisherigen Erfahrungen – gut beraten, sich durch das Bild einer allein um sich selbst kreisenden maskulinen und blinden Geschäftigkeit ernüchtern zu lassen. An großen Worten fehlt es nie und nimmer – an kleinen Taten, die die Nöte lindern, immer.
An dieser Stelle halte ich inne und erwähne allein namentlich, was Sie sich bitte selbst erschließen wollen: den aus DDR‐Beständen gefertigten Teppich der Patchwork‐Familie, die Figuren aus der „Frauendeformation“, die „Lenin‐Bibel“, die sich, wiewohl ihr keine Seite fehlt, partout nicht lesen lässt, die Kisten der „Wassermusik“ am Ufer der Mulde, die „Tagebuchblätter aus dem Berliner Dom“, die bildhaften Kommentare zum Skandalon der „Panama‐Papers“ und die sanften „Ruhekissen“ aus den zerschredderten Hinterlassenschaften der Stasibehörden.
Von Gottfried Benn, im nahe gelegenen Mansfeld geboren, stammt der Satz: „Aber wenn der Mann“ – ich modifiziere: die Frau – „danach ist, dann kann der erste Vers aus dem Kursbuch sein und der zweite eine Gesangbuchstrophe und der dritte ein Mikosch‐Witz. Und das Ganze ist doch ein Gedicht.“ Ich zögere nicht, diese Sentenz auch im Blick auf Tinas Assemblagen und Arrangements für wahr zu halten und als Prädikat ihrer besonderen künstlerischen Qualität zu nehmen.